Du glittst gegen 9 Uhr morgens im Geburtshaus Freiburg auf die Welt. Ich erinnere mich genau an den Anblick – auch heute, 10 Monate später, siehst du manchmal noch so aus, wenn du schläfst. Eine kleine Puppe, vollkommen und ruhig und friedlich, ein angedeutetes Lächeln auf den Lippen. Als wir dich kurz nach deiner Geburt an meine Brust legten, damit du nach Brustwarze und Milch suchtest, schliefst du einfach weiter, machtest die Augen kaum auf. Die tapfere Hebamme versuchte eine geschlagene Stunde, dich zum Trinken zu bewegen – nichts zu machen. Ein paar Tropfen flößte dir schließlich der Löffel ein. Rührte dich nicht.
Ich war überwältigt, wie gut alles geklappt hatte. Deine Geburt war ruhig und friedlich verlaufen. Genau so: ruhig und friedlich. Ich konnte es nicht glauben. Den Großteil der Nacht zuvor, in der die Wellen begonnen hatten, hatte ich zu Hause in meinem Bett verbracht. Ich wusste weil gelesen, dass mein Körper auf Autopilot schalten würde und auch ohne mein Zutun wusste, was zu tun war. Ich wusste allerdings auch, dass eine Geburt kein Spaziergang ist. Die Schmerzen, durch die sich der Muttermund öffnet und die Babies schließlich aus dem Körper gleiten, haben einen Sinn und sind real. Hell yes, es stimmt, was man sagt: Die Geburt verpassen kann man nicht. Man kann sogar absolut nichts anderes tun, so vereinnahmend ist der ganze Prozess.
Weil die Schmerzen durch sehr wichtige Aufgaben im Körper entstehen, ist es sinnvoll, sie sein und arbeiten zu lassen. Im Vorfeld hatte ich allerdings eine bestimmte Atemtechnik gelernt, die mir half, diese Schmerz-Wellen ruhig zu erleben. Der Schmerz verringerte sich dadurch nicht, doch wenn die Wellen kamen, konzentrierte ich mich scharf auf meine Atmung und das Weiten des Muttermundes, nicht auf den Schmerz. Bei jeder Welle dachte ich irgendwann, wie lange geht es noch, und dann auf einmal war sie weg. So konnte es gehen, das spürte ich, und folgte dem Bedürfnis, mich zwischen den Liegephasen im Bett (natürlich: Embryostellung), immer wieder an die Wand zu stellen. Auch die Schwerkraft half, dich auf die Welt zu schieben.
Zwischen den Wellen beamte ich mich gedanklich immer wieder an einen sehr schönen Ort. Im Vorfeld hatte ich ihn gedanklich eingerichtet und regelmäßig besucht. Ich wusste genau, wie es sich anfühlte, dort zu sitzen und da zu liegen, den Sand zwischen meinen Fingern zu spüren, ins Wasser hinauszuschwimmen. Und nun endlich: Zu dir zu schwimmen, dich zu holen. Der Gedanke ließ mich tiefruhen und entspannen. Alles war gut. Das Leben von Sonnenstrahlen gewärmt schön. Ich war auf dem Weg zu dir und du zu mir. Ich denke noch immer häufig an den Ort.
Wie ich den Großteil der Zeit im Bett lag, muss ziemlich gechillt ausgesehen habe. Dein Papa erzählte im Nachhinein, dass ich zwischendurch geschlafen habe. In meiner Version der Geschichte bin ich hellwach, irgendwo zwischen atmen, konzentrieren, warten. Und: Reisen. Atmen, konzentrieren, warten. Reisen. Atmen, konzentrieren, warten. Reisen.
So verging Stunde um Stunde. Gegen 2 Uhr nachts besuchte uns Hebamme Franzi, um zu sehen, wie es uns ging. Ihre sanfte und ruhige Art - ich hatte sie gerade erst nackt bei uns im Flur kennengelernt - beruhigte mich wie ein i-Tüpfelchen. Ich solle genau so weitermachen, sagte sie, und bot an, eine Weile zusammen mit mir zu atmen. Ihre Hand auf meinem seitlichen Rücken, schützend, unterstützend, umarmend. Die Wellen kamen und gingen. Ich lag, atmete konzentriert, wartete. Reiste.
Gegen 5 Uhr morgens platzte meine Fruchtblase. Es war, als ergieße sich eine große Flutwelle in meinen Körper, denn fast gleichzeitig musste ich mich übergeben und stürzte ins Bad. Der Körper schafft alles raus, was nicht benötigt wird, dachte ich, mein kluger Tempel. Dein Papa rief die Hebammen an, die uns einluden, ins Geburtshaus zu kommen, wenn uns danach sei. Die Wellen kamen inzwischen fast ohne Pause, und der Gedanke, die Wohnung zu verlassen und jetzt an einen anderen Ort zu fahren, war für mich fast undenkbar. Alles in mir sträubte sich, diese Sicherheit zu verlassen. Doch wenn wir jetzt nicht fuhren, würde ich dich hier gebären, und das wollte ich nicht – wer wusste schon, was kommen würde. Welle liegend auf dem Teppich abwarten, ok Schuhe anziehen. Welle gekrümmt am Aufzug abwarten, ok runterfahren. Welle vor den Treppenstufen abwarten, ok Nachbarin ignorieren. Kurzer Test auf dem Beifahrersitz, ok nur Liegen auf der Rückbank möglich. Welle an der Wand des Geburtshauses neben der dreispurigen Straße, danke netter Herr, der seine Hilfe anbietet, aber es gibt nichts, was Sie tun können.
Dein Papa sagt, die kurze Strecke sei die aufregendste Autofahrt seines Lebens gewesen. Er fuhr sehr langsam, ich spürte ich jede Unebenheit auf der Straße, doch mich führte der Gedanke an die gemütlichen Betten im Geburtshaus. Als wir ankamen, war ein Zimmer bereits belegt, das Bett im zweiten Raum wartete also auf uns. Ich sank erleichtert hinein. Hier fühlte ich mich wieder in Sicherheit.
Ich erinnere mich irgendwann gefragt zu haben, warum noch kein „Programm“ gestartet sei und alle so entspannt auf dem Boden neben mir saßen. Dann fragte Hebamme Delia, ob sie mich untersuchen dürfe. Um mir kurz darauf mitzuteilen, dass der Muttermund vollständig geöffnet sei und ich, wenn mir danach sei, dem Pressdrang nachgeben dürfe. Ich nickte überrascht und mir wurde bewusst, dass die finale Phase deiner Geburt angebrochen war. Sogleich merkte ich, dass die Wellen noch einmal stärker wurden, indem sie nun meinengesamten Körper erfassten. Ich musste meinen Körper bei jeder Welle vollständig anspannen. Meinen Rücken, meine Fäuste, meine Beine. Der Drang war überwältigend – ich konnte nicht nicht mitmachen. Ich ließ noch einmal los. Ging mit, spannte alle Muskeln mit aller Kraft an, ließ den Autopilot gewähren. Schob dich immer weiter aus meinem Unterleib.
Delia fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, die Position zu ändern. Erneute Schwerkraft und die weiße Wand neben dem Bett schienen mir eine gute Kombination. Die Wellen waren nun so überwältigend, dass ich laut mittönte. Mein ganzer Körper zitterte durch die extreme muskuläre Anstrengung, aber auch weil deine Geburt nun kurz bevorstand. Ich ging in die Hocke, hörte deinen Papa noch die Hebammen fragen, ob er etwas tun könne, und schon fragte mich Delia, ob ich dich, meinen Sohn, mit den Händen halten wolle, wenn du gleich auf die Welt glittst. Halb erschrocken – was ist wenn er mir runterfällt – halb erschöpft– keine Muskelkraft mehr, eine andere Position einzunehmen – bat ich sie, das zu übernehmen. Zwei schnelle Wellen später glittst die in ihre Hände und zwei Sekunden später in meine. Meine kleine Puppe. Du sahst so ruhig und friedlich aus. Herzlich Willkommen auf dieser Welt. Bist du schön..
Damit du aufwachtest, pustete ich dich kurz an und du schriest zum ersten Mal in deinem Leben auf. Strahlend gingen dein Papa und ich mit dir zum Bett. Wir kuschelten eine perfekte lange Weile ohne Zeitdruck zu Dritt. Ich war alles andere als erschöpft – ich war hellwach und absolut euphorisch. „Habe ich gerade mein Kind geboren?!?! 9 Monate Schwangerschaft halbwegs gut gelaunt überlebt?!?! Alle Mütter dieser Welt – wie krass sind wir?!?!“ Du nuckeltest zuckersüß an deinem kleinen Daumen, schliefst weiter und warst kaum aufzuwecken. Gechillte kleine Maus.
Nach zwei Stunden wurdest du gewogen und untersucht, deine Werte waren gut. Wir unterhielten uns mit den Hebammen, sie erklärten uns ein paar Dinge für den Anfang, alle waren so sanft und freundlich. Ich duschte (so banal) und wir entschieden, zu Hause als Erstes eine Pizza zu essen. Wir zogen dich vorsichtig an, schnallten dich in den Autositz und Papa fuhr nach Hause – die zweitaufregendste Fahrt in seinem Leben. In der Wohnung riefen wir unsere Familien an, die aus allen Wolken fielen, denn du kamst einige Tage früher als gedacht zu uns.
Abends klingelte die Wochenbetthebamme Jenny, die uns die darauffolgenden Wochen begleiten würde (wichtigster täglicher Satz: Ja, das ist normal, ihr macht das genau richtig). Dir ging es gut, uns ging es gut, es war ein wunderschöner Tag. So konnte dein Leben beginnen.
So begann dein Leben.